Neandertaler nutzten schon Klebstoff

Rekonstruktion wie das Steinartefakt mit dem Griff aus dem Bitumen-Ocker-Gemisch von einer Neandertalerin gehalten werden konnte
Berliner Museumsfund

Neandertaler in Frankreich verwendeten vor über 40.000 Jahren einen Klebstoff aus Ocker und Bitumen, um Steinwerkzeuge mit Griffen zu versehen. Reste dieses Klebstoffs hafteten noch an den Objekten, die aus der berühmten Fundstelle Le Moustier in die Sammlung des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin gelangten. Diese Entdeckung bietet Einblicke in die kognitiven Fähigkeiten der Neandertaler, die lange unterschätzt worden sind.

Mikroskopische Aufnahme des Restes des Bitumen-Ocker-Gemisches. Deutlich zu sehen sind die Anteile des Ockers, die in das Bitumen eingearbeitet sind

Frühe Menschen aus dem heutigen Frankreich nutzten bereits vor mehr als 40.000 Jahren einen Klebstoff aus mehreren Komponenten, um Steinwerkzeuge mit Griffen zu versehen. Sie stellten eine ausgeklügelte Mischung aus Ocker und Bitumen her, zwei Rohstoffen, die aus der weiteren Region beschafft werden mussten. Es handelt sich um den bisher frühesten Fund eines Mehrkomponentenklebers in Europa. Das hat die Aufarbeitung von Stücken aus der Neandertalerfundstelle Le Moustier in der Dordogne unter der Leitung von Dr. Patrick Schmidt aus der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen und Dr. Ewa Dutkiewicz vom Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin ergeben. Die Entwicklung von Klebstoffen und deren Einsatz für die Herstellung von Werkzeugen gelten als einer der besten materiellen Belege für die kulturelle Evolution und die kognitiven Fähigkeiten früher Menschen. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift „Science Advances“ veröffentlicht.

 

Technische Zeichnung des Steinartefaktes Va 7157.6. Gut zu erkennen ist die Verteilung der Reste des Bitumen-Ocker-Gemisches, © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte, Zeichnung: Daniela Greinert
Steinartefakt aus dem oberen Felsüberhang der Neandertaler-Fundstelle Le Moustier mit Resten des Bitumen-Ocker-Gemisches, aus dem der Griff hergestellt wurde. An diesem Stück war so viel Material erhalten, dass eine Beprobung möglich war.
Technische Zeichnung des Steinartefaktes Va 7158.7. Gut zu erkennen ist die Verteilung der Reste des Bitumen-Ocker-Gemisches
Ein weiteres von insgesamt 5 Steinartefakten mit Resten des Bitumen-Ocker-Gemisches, die aus dem oberen Felsüberhang der Neandertaler-Fundstelle Le Moustier stammen. Inventarnummer Va 7158.7

Die Steinwerkzeuge aus Le Moustier, werden in der Sammlung des Museum für Vor- und Frühgeschichte aufbewahrt und waren bisher nicht näher untersucht worden. Der Schweizer Archäologe Otto Hauser hatte sie aus dem oberen Felsüberhang von Le Moustier geborgen. Sie wurden in einer Schicht aus der mittleren Altsteinzeit entdeckt. Die Epoche wird sogar nach dem Fundort Le Moustier als Moustérien bezeichnet wird. Die Neandertaler nutzen die Höhle vor 120.000 zum ersten Mal, vor 40.000 Jahren endeten die Aufenthalte der Neandertaler. Bei einer internen Aufarbeitung des Sammlungsbestandes wurde jetzt  ihr wissenschaftlicher Wert erkannt. „Die Sammlungsstücke waren einzeln verpackt und seit den 1960er-Jahren unberührt. Dadurch waren die anhaftenden Reste organischer Stoffe sehr gut erhalten“, berichtet Ewa Dutkiewicz. Aus dem unteren Felsüberhang der Fundstelle Le Moustier stammt der Schädel eines jugendlichen Neandertalers, der zu den wertvollsten Objekten in den Berliner Sammlungen gehört.

Frisches Bitumen ohne Ockerbeimischung auf einem Steinartefakt. In diesem Zustand eignet sich das Bitumen nicht als Klebstoff oder Griff, da es zu flüssig und klebrig ist. Durch die Zugabe von Ocker wird dieses Material nutzbar

Reste von Ocker und Bitumen an Steinwerkzeugen

Die Forscher*innen entdeckten an mehreren Steinwerkzeugen, wie Abschlägen, Schabern und Klingen, Reste einer Mischung aus Ocker und Bitumen. Ocker ist ein natürlich vorkommendes farbiges Erdpigment. Das Kohlenwasserstoffgemisch Bitumen ist unter anderem Bestandteil von Asphalt, kann aus Erdöl hergestellt werden, kommt jedoch auch natürlicherweise im Boden vor. „Wir waren überrascht, dass der Ockeranteil bei mehr als 50 Prozent lag. Denn an der Luft getrocknetes Bitumen kann auch unverändert als Klebstoff genutzt werden und verliert durch Zugabe von so viel Ocker seine Klebeeigenschaften“, sagt Schmidt. Das habe er mit seinem Team in Zugversuchen und mit experimentell hergestelltem Vergleichsmaterial getestet.
„Anders war es, als wir flüssiges Bitumen einsetzten, das sich zum Kleben eigentlich gar nicht eignet. Fügt man 55 Prozent Ocker hinzu, erhält man eine formbare Masse“, sagt er. Die sei nur gerade so klebrig, dass ein Steinwerkzeug darin steckenbleibt, die Hände aber sauber bleiben – das Richtige also für einen Griff. „Eine mikroskopische Untersuchung der Gebrauchsspuren in Zusammenarbeit mit der New York University ergab, dass die Klebstoffe an den Geräten aus Le Moustier so verwendet worden sind“, berichtet der Wissenschaftler.

Rekonstruktion des jugendlichen Neandertalers aus dem unteren Felsüberhang von Le Moustier, der 1908 vom Schweizer Archäologen Otto Hauser gefunden wurde

Gezieltes Vorgehen

Die Nutzung von Klebern mit mehreren Komponenten, darunter verschiedene klebrige Substanzen wie Baumharze und auch Ocker, sei bisher vor allem von frühen modernen Menschen, dem Homo sapiens, in Afrika bekannt gewesen. „Solche technologischen Entwicklungen und das Verständnis für Materialeigenschaften wurden auch als erster Ausdruck umfassender kognitiver Prozesse der Menschen betrachtet, die unserer heutigen Denkweise bei industriellen Prozessen entsprechen“, so Schmidt.
In der Region von Le Moustier mussten Ocker und Bitumen aus weit voneinander entfernten Orten zusammengetragen werden, das bedeutet großen Aufwand, erfordert Planung und eine gezielte Vorgehensweise. „Wir gehen unter der Einbeziehung des ganzen Fundzusammenhangs davon aus, dass das aufwendig produzierte Klebematerial von Neandertalern hergestellt wurde“, so Dutkiewicz. „Was unsere Studie zeigt, ist, dass sich in der Klebstofftechnologie beim frühen Homo sapiens in Afrika und bei den Neandertalern in Europa ähnliche Denkmuster widerspiegeln“, sagt Schmidt. „Diese Entdeckung ist von großer Bedeutung für unser Verständnis von Menschwerdung.“

Interessierte können in der Dauerausstellung zur Steinzeit im Neuen Museum aktuell den Schädel des jugendlichen Neandertalers sehen, sowie andere Steinartefakte aus der Fundstelle. Es ist geplant, die Steinartefakte aus dieser Studie ebenfalls in die Dauerausstellung zu integrieren.

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